Gastbeitrag: Gewalt am Arbeitsplatz vermeiden

Kerstin Neighbour, Rechtsanwältin für Arbeitsrecht, / Quelle: Hogan Lovells
Kerstin Neighbour, Rechtsanwältin für Arbeitsrecht, / Quelle: Hogan Lovells

Pöbeleien, Bedrohungen, Handgreiflichkeiten: Gewaltausbrüche am Arbeitsplatz sind auch für Arbeitgeber ein Problem. Wie Unternehmen tätliche Übergriffe wirksam sanktionieren oder diesem Problem im Vorfeld präventiv begegnen, erklärt Kerstin Neighbour, Rechtsanwältin für Arbeitsrecht bei Hogan Lovells, in einem Gastbeitrag.

Reibereien gibt es seit jeher in nahezu jedem Unternehmen. Doch heutzutage werden viele Streitigkeiten zunehmend aggressiver ausgetragen. Der Arbeitsplatz wird häufig zum gefährlichen Gewaltherd. Dies zeigen viele Gerichtsfälle der jüngeren Vergangenheit. Kontrahenten attackieren sich mit kiloschweren Katalogen, Motorradhelmen, Knallkörpern oder kochendem Wasser. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Fälle, in denen Arbeitnehmer ihren Kollegen oder Vorgesetzten drohen, sie schwer zu verletzen oder sogar zu töten. Die Aggressoren sind zum Teil verdiente Mitarbeiter, die seit Jahren beanstandungsfrei für das Unternehmen arbeiten.

Streit kann leicht eskalieren

In der modernen Arbeitswelt reagieren viele Mitarbeiter offenbar zunehmend gereizt. Immer mehr Konflikte entladen sich in verbaler oder körperlicher Gewalt. Die Formen reichen von Beleidigungen und Drohungen über Sachbeschädigungen bis hin zu handfesten Prügeleien. Die Gründe für diese Entwicklung sind vielschichtig. Neben einer wachsenden Arbeitsbelastung und zunehmendem Termindruck ist oft eine unzureichende Kommunikations- und Konfliktkultur ursächlich. Für zusätzlichen Zündstoff sorgen soziale Medien. Häufig lassen Mitarbeiter ihrem Unmut unter einem Pseudonym freien Lauf und ledern gegen Kollegen und Vorgesetzte.

Der Umgang mit Gewalt am Arbeitsplatz wird zu einer dringlichen Management-Aufgabe. Die meisten Reibereien beginnen im Kleinen und schaukeln sich hoch. Mit den richtigen Maßnahmen lassen sich viele Gewaltausbrüche verhindern oder eindämmen. Ungelöste Konflikte zwischen Kollegen oder mit Vorgesetzten kommen Unternehmen teuer zu stehen. Betroffene reagieren oft mit einer „inneren Kündigung“ und stecken mit ihrer Unlust noch die Kollegen an. Schnell addieren sich Kosten für Fehltage, Überstunden von Kollegen und Neubesetzungen auf stattliche Summen. Obendrein müssen Unternehmen vielfach Umsatz- und Qualitätseinbußen verkraften. Entladen sich schwelende Konflikte in Gewalt, ist der Schaden noch ungleich größer. Schnell sind das soziale Gefüge und die Produktivität ganzer Unternehmensbereiche nachhaltig beschädigt.

Welches Sanktionsmittel ist angemessen?

Kommt es zu Gewalt am Arbeitsplatz, dürfen Vorgesetzte den Vorfall keinesfalls bagatellisieren. Sie sollten zügig und konsequent, aber nicht überstürzt reagieren. Alle arbeitsrechtlichen Sanktionen wollen gut überlegt sein. Der Arbeitgeber trägt in einem Kündigungsschutzprozess die Beweislast und muss seine Entscheidung rechtfertigen. Wer unbedacht eine Kündigung ausspricht, riskiert langwierige Kündigungsschutzprozesse mit ungewissem Ausgang. Die Crux: Zwar können Gewaltausbrüche an sich eine Kündigung rechtfertigen, doch entscheiden letztlich immer die individuellen Umstände.

Vereinfacht gesagt, macht es für die Arbeitsgerichte einen großen Unterschied, ob der Täter ein langjähriger, vertragstreuer Mitarbeiter oder ein junger, uneinsichtiger Berufseinsteiger ist. Deshalb empfiehlt sich bei Eskalationen ein systematisches Vorgehen in enger Abstimmung mit Betriebsrat und Personalabteilung (siehe unten: „Bei Gewaltausbrüchen richtig vorgehen“).

Bevor Arbeitgeber eine Kündigung aussprechen, müssen sie auch weniger einschneidende Sanktionsmittel in Erwägung ziehen. Die mildeste Maßnahme ist die Ermahnung als Vorstufe zur Abmahnung. Damit missbilligen Arbeitgeber vertragswidriges Verhalten, verzichten aber auf arbeitsrechtliche Konsequenzen. Eine Ermahnung kommt bei einem einmaligen leichten Fehlverhalten von verdienten Kräften in Betracht. Bei wiederholten oder schweren Übergriffen sollten Arbeitgeber eine Abmahnung aussprechen. Damit dokumentieren sie den Sachverhalt und sprechen eine klare Warnung aus. Im Wiederholungsfall müssen Täter mit einer Kündigung rechnen. Bei erneuten Übergriffen nach einer vorausgegangenen Abmahnung ist eine ordentliche Kündigung möglich. Bei sehr gravierenden Übergriffen, die den Betriebsfrieden gefährden, dürfen Chefs auch zum stärksten aller Sanktionsmittel greifen und sofort eine fristlose Kündigung aussprechen.

Übergriffe von vorneherein vermeiden

Ist ein rauer Umgangston an der Tagesordnung, sind Grenzüberschreitungen oft nur eine Frage der Zeit. Kommt es zu Gewaltausbrüchen, muss sich die Führungsebene fragen, ob die Ursachen vielleicht im Unternehmen liegen. Viele Aggressionen lassen sich vermeiden oder deutlich entschärfen, wenn Vorgesetzte ein Gespür für drohende Konflikte entwickeln. Die Führungsriege sollte auf Zwistigkeiten sensibel reagieren und Kontrahenten frühzeitig zu einer Aussprache mit einem neutralen Dritten zusammenführen. Ansonsten entwickeln Konflikte schnell eine Eigendynamik, die kaum mehr zu kontrollieren ist.

Vorgesetzte sollten ein respektvolles Miteinander vorleben und fördern. Hilfreich sind allgemeine Regeln für die kollegiale Zusammenarbeit in Form einer Arbeitsordnung oder eines Verhaltenskodex. Idealerweise entwickeln Geschäftsführung, Betriebsrat und Belegschaft die Leitlinien gemeinsam. So finden die Regeln breite Akzeptanz und helfen, Konflikte zu entschärfen, bevor sie eskalieren.

Bei Gewaltausbrüchen richtig vorgehen

Arbeitgeber sollten auf Gewaltausbrüche konsequent aber maßvoll reagieren, möglichst in enger Abstimmung mit Betriebsrat und Personalabteilung. Wer vorschnell überharte Sanktionen ausspricht, hat schlechte Karten in einem späteren Kündigungsschutzprozess.

1. Vorgang aufklären: Nicht immer ist die Schuldfrage eindeutig. Klarheit verschafft eine sorgfältige Aufklärung. Wer hat was genau gesagt oder getan? Gibt es eine „Vorgeschichte“ oder ging dem Übergriff eine Provokation voraus? Hat der Täter sich im Nachhinein entschuldigt?

2. Beweise sammeln: Beteiligte schildern den Hergang oft unterschiedlich. Der Arbeitgeber sollte Beweise einholen und protokollieren. Decken oder widersprechen sich die Aussagen von Zeugen? Sind die Schilderungen realistisch? Gibt es Videoaufnahmen und können diese vor Gericht als Beweismittel dienen?

3. Sanktionen abwägen: Arbeitgeber sollte nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen, sondern Sanktionsmittel mit Bedacht auswählen. Bei einer Kündigungsschutzklage müssen sie sich vor Gericht rechtfertigen. Richter hinterfragen, ob die Sanktionen angemessen und nicht überzogen sind. Sicherheitshalber sollten Firmen vorab rechtlichen Rat einholen.

Autorin: Dr. Kerstin Neighbour, Rechtsanwältin bei Hogan Lovells

Dr. Kerstin Neighbour ist eine Rechtsanwältin mit langjähriger Erfahrung in der Beratung von Unternehmen zum Arbeitsrecht. Sie leitet die deutsche Arbeitsrechtspraxis bei Hogan Lovells mit mehr als 25 Rechtsanwälten an vier Standorten. Rechtsanwältin Neighbour ist Co-Herausgeberin und Co-Autorin des Standardwerkes „Beck'sches Formularbuch Arbeitsrecht“ im Verlag C.H. Beck.